Wenn die Seele krank ist

01.10.2024
Foto: Kishivan, Adobe Stock

Hindenburger - Medizin und Co, 4. Quartal 2024
Text: Reha-Verein

Lebensqualität, Leistungsfähigkeit, Teilhabe am sozialen und gesellschaftlichen Leben, die Liste ließe sich beliebig fortsetzen: Wenn die Seele krank ist, ist all das mehr oder weniger stark beeinträchtigt oder fast unmöglich. Störungen der psychischen Gesundheit sind weit verbreitet, sie reichen von leichten Einschränkungen des seelischen Wohlbefindens bis zu schweren, oft langdauernden psychischen Erkrankungen. Die Folgen für das Individuum, aber auch für die Gesellschaft sind erheblich.

Laut einem Bericht der AOK Rheinland/Hamburg vom 21.02.2024 sind jedes Jahr 28 % der erwachsenen Bevölkerung von einer psychischen Erkrankung betroffen. Psychische Erkrankungen haben damit „aufgeholt“ und nehmen mittlerweile Platz 2 bei den häufigsten Indikationen für Krankschreibungen ein (nach Muskel-Skelett-Erkrankungen). Da psychische Erkrankungen häufig langdauernd und langwierig sind, steigt auch die Zahl der Krankheitstage: bei berufstätigen Versicherten lag sie 2023 im Durchschnitt bei 26,21 Tagen, 2022 waren es noch 25,52 Tage. Auch die Berichte der anderen Kassen weisen ähnliche Zahlen aus. Zur Belastung durch die eigentliche Erkrankung kommt häufig die Sorge um einen möglichen Verlust des Arbeitsplatzes und die Angst, den Anforderungen eines leistungsorientierten Arbeitsmarktes generell nicht mehr zu genügen, mit all den sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Absicherung der eigenen Lebensführung, aber auch für das familiäre Miteinander und für soziale Kontakte allgemein.

Wer ist besonders betroffen?
Verschlechterungen im psychischen Gesundheitszustand zeigen sich in allen Geschlechter-, Alters- und Bildungsgruppen, dabei sind Frauen häufiger betroffen als Männer, Jüngere mehr als Ältere, aktuell rückt auch die Gruppe der 45- bis 64-Jährigen in den Fokus. Bildung und soziale Stellung spielen dabei eine nicht unerhebliche Rolle: Menschen mit einem niedrigeren Bildungsstand erkranken deutlich häufiger.
Quelle: https://de.statista.com/themen/1318/psychische-erkrankungen/

Grenzen von Statistik und Diagnostik
Die Statistiken der Krankenkassen über Krankschreibungen bilden nur eine Teilgröße ab, denn viele Menschen mit einer langdauernden und schwerwiegenden psychischen Erkrankung tauchen auf dem Arbeitsmarkt gar nicht (mehr) auf, sind teilweise berentet und/oder auf soziale Teilhabeleistungen angewiesen. Auch die rein medizinische Diagnostik erfasst nur eine Teilgröße: „Wir werden oft leider immer noch reduziert auf Diagnosen und Symptome und eben nicht als ganze Menschen mit unserem komplexen Lebenslauf und mit unserem komplexen persönlichen Erleben gesehen“, wie Dr. Elke Prestin, eine promovierte Sprachwissenschaftlerin und selbst Betroffene auf dem Fachtag des Reha-Vereins 2023 feststellte. Was indessen kaum wahrgenommen werde, sei „die tiefe Verunsicherung, die bei den betroffenen Menschen entsteht und ihr Leben (zusätzlich) beeinträchtigt: Wenn ich nicht mehr funktioniere, wenn ich die Erwartungen nicht mehr erfülle, wer bin ich dann eigentlich noch in dieser leistungsorientierten, funktionsorientierten Gesellschaft?“

Bei der Forschung nach den Ursachen psychischer Erkrankungen stehen sich zwei ganz unterschiedliche Erklärungsansätze gegenüber: während der medizinische Ansatz von weitestgehend körperlichen Ursachen und Dysbalancen ausgeht, die entsprechend medikamentös zu behandeln sind (s.o.), sieht der sozialpsychiatrische Ansatz die Ursachen der meisten psychischen Erkrankungen im Spannungsverhältnis von Individuum und sozialen/gesellschaftlichen Zusammenhängen. Zur Unterstützung und Stärkung der eigenen Person, auch zu einer möglichen Genesung wird der soziale Zusammenhalt, die Unterstützung und Einbettung in ein funktionierendes soziales Gefüge als fundamental angesehen. Ressourcen der eigenen Person und des sozialen Umfelds sollen dabei eine positive Wechselwirkung ausüben, beim psychisch erkrankten Menschen heilende Kräfte wecken, aber auch beim Umfeld Verständnis und Akzeptanz verstärken. Das war in den 70er Jahren auch ein Impuls der gemeindepsychiatrischen Bewegung: Menschen mit einer psychischen Erkrankung nicht in „Anstalten“ zu isolieren, sondern die fördernden Kräfte des sozialen Umfelds und der damit verbundenen Ressourcen zu nutzen. Fortgesetzt und ausgebaut wird dieser Ansatz beständig in sozialräumlich orientierten und vernetzten Einrichtungen und Teams


Stichwort Depression:
Depressionen sind mittlerweile die am häufigsten diagnostizierten psychischen Erkrankungen. Das Thema galt lange als Tabu, inzwischen sprechen viele Menschen offener über ihre psychischen Probleme. Depressionen werden dabei oft unterschätzt: Sie zählen zu den häufigsten psychischen Erkrankungen - die schlimmstenfalls durch Suizid tödlich enden. Lt. Feststellung der WHO (World Health Organisation) sind „einige der wichtigsten Ursachen für Depressionen sexueller Missbrauch, Mobbing oder Schikane im Kindesalter. Dem müsse aktiv entgegengewirkt werden: durch soziale Dienste, Unterstützung für Familien mit Problemen und Programme für soziales und emotionales Lernen in Schulen. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten, Kriege, die Klimakrise und Gesundheitsbedrohungen – wie eine Pandemie – seien Risiken, die zu psychischen Krankheiten beitragen.“
Auch dies ein Plädoyer für eine sozialräumliche Orientierung und Einbettung der Psychiatrie.