Arbeit für alle? – Plädoyer für einen inklusiven Arbeitsmarkt
Hindenburger - Medizin + Co. 2/2024
Text: Dieter Schax, Reha-Verein
Erwerbsarbeit spielt in Deutschland eine große Rolle - sowohl in gesellschaftlicher als auch in individueller Hinsicht. Zum einen sichert berufliche Arbeit im Regelfall den Lebensunterhalt und eine eigenständige Existenz, zum anderen ermöglicht sie die Teilhabe am gesellschaftlichen und sozialen Leben. Im Gegenzug schränkt Erwerbslosigkeit nicht nur in finanzieller Hinsicht ein, sondern zwingt auch zu einer eingeschränkten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben: nicht nur die Betroffenen selbst, sondern auch ihre Familien.
In einer Zeit beschleunigter und immer komplexerer Arbeitsprozesse mit hohem Leistungsdruck besteht für viele Menschen die Gefahr, durch Depressionen, Burn-Out oder andere psychische Erkrankungen zu dekompensieren. Durch das Zusammenspiel von hohen Leistungsanforderungen, psychischen Störungen und drohendem Arbeitsplatzverlust besteht für vulnerable und psychisch vorerkrankte Personen die reale Gefahr einer langwierigen Erkrankung und damit ein Kreislauf, der nur sehr schwer zu durchbrechen ist. Die regelmäßig von den verschiedenen Krankenkassen veröffentlichten Daten zu krankheitsbedingten Ausfallzeiten und Frühberentungen aufgrund einer psychischen Erkrankung belegen dies eindrücklich.
Eine stetig ansteigende Anzahl dieser Menschen gleitet in unsere Transfersysteme ab: Zunächst sichern Kranken- und Arbeitslosengeld noch ein gewisses Ein-und Auskommen. Auch die Möglichkeit einer Frühverrentung erscheint auf den ersten Blick als eine den Lebensstandard absichernde Maßnahme, denn meist ist der Versuch ins Arbeitsleben zurückzukehren langwierig, von Misserfolgen und langen Phasen der Arbeitslosigkeit begleitet und häufig ohne Erfolg.
Wenn wir davon ausgehen, dass in einer Gesellschaft wie der unsrigen Arbeit ein für Identitäts-bildung und psychische Gesundheit außerordentlich wichtiger Faktor ist, stellt sich die Frage, warum wir nicht alles dafür tun, dass möglichst alle Menschen an Arbeit teilhaben können. Und zwar im Sinne einer inklusiven Gesellschaft: Jede*r leistet den Teil, den sie oder er zu leisten vermag.
Diese Frage stellt sich besonders für diejenigen, für welche die Möglichkeiten von Arbeit und Beschäftigung nicht selbstverständlich sind, gerade auch für Menschen mit Behinderungen. Diejenigen, die einen Grad der Behinderung von 50 und mehr haben, also laut Gesetz schwerbehindert sind, werden durch das Schwerbehindertengesetz besonders geschützt und durch die Inklusionsämter bei Aufnahme und Erhalt von Beschäftigung besonders unterstützt, sowohl durch individuelle als auch durch Leistungen an Arbeitgeber.
Laut §2, Abs.1 des SGB IX, dem Sozialgesetzbuch zu Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen, das auf der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) aufbaut, wird der Begriff einer „Behinderung“ aber deutlich weiter gefasst:
„Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbehinderungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können.“
Menschen mit Behinderung haben danach ein gleiches Recht und gleiche Chancen auf einem offenen, integrativen und zugänglichen Arbeitsmarkt haben.
Fast jede*r kennt sie aus seinem Umfeld: Menschen, die an psychischen Erkrankungen leiden und daher die oben geschilderten Kriterien für eine psychische Behinderung erfüllen. Sie kommen aus allen Bevölkerungsschichten und aus allen Bildungsniveaus, verfügen häufig über eine qualifizierte Ausbildung oder ein abgeschlossenes Studium. Warum ihre Potentiale also nicht fördern und nutzen, gerade im Hinblick auf den steigenden Fachkräftebedarf? Denn nicht die geforderte Fachlichkeit ist häufig ihr Problem, sondern eine sofortige Überforderung. Mit kleinen Schritten beim Einstieg, überschaubaren Aufgaben, die sich allmählich steigern lassen und einem verständnisvollen Umfeld lassen sich hingegen wertvolle Mitarbeiter*innen gewinnen.
In den Werkstätten des Reha-Vereins arbeiten viele Menschen mit psychischen Einschränkungen, die einen solchen kleinschrittigen Weg gegangen sind. „Wenn die Anforderungen allmählich steigen, merkt man die Erfolge und entdeckt: Ich kann ja noch eine Menge dazulernen und das sogar an andere weitergeben. Das ist total gut für das Selbstvertrauen,“ stellt einer von ihnen fest., der über das Programm 16i SGB II des Jobcenters gefördert und inzwischen als Fachkraft übernommen wurde. „Mit dem Teilhabechancengesetz im SGB II hat der Gesetzgeber einen wichtigen Akzent zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit gesetzt“, erklärt der Vorstandsvorsitzende des Reha-Vereins Dieter Schax. „Wir freuen uns ganz besonders, dass hierdurch einige unserer ehemaligen Klient*innen den Sprung in ein Beschäftigungsverhältnis geschafft haben.“
Den häufig gepriesenen inklusiven Arbeitsmarkt gibt es in Deutschland noch lange nicht. Es gibt einige „Leuchttürme“, die zeigen, wie es gehen könnte. Es ist ein langer Weg, der nicht nur Geld und persönliches Engagement braucht, sondern der in unseren Köpfen beginnt: Wie wollen wir miteinander leben und wie wollen wir arbeiten?